Urheimat und Skandinavientopos

Jahrzehnte lang war es still, um das Problem der Urheimat der germanischen Völker. Nach der Besetzung eines Großteils Skandinavien durch Nazi-Deutschland mochte man dort nicht mehr germanisch sein. Die Forschung zu den Germanen war generell in Misskredit geraten. Die Hippie-Folklore und Esoterik wich geschickt auf die Kelten aus, die unbelasteter schienen. Nur in linguistischen Fachkreisen wurde, freilich fast hinter verschlossenen Türen, weiter diskutiert. Dann trat einer der bedeutendsten Namensforscher der Gegenwart in die Öffentlichkeit und verkündete, das Problem geknackt zu haben. Nicht nur das! Er bot auch gleich eine “Urheimat” für die Slawen und Kelten an und eine eigene Theorie zur Urheimat der Indoeuropäer. Gemeint ist Dr. Jürgen Udolph und seine “Namenskundliche Studien zum Germanenproblem”. Dazu später mehr!

Was ist eine Urheimat?

Zunächst einmal müssen wir fragen, was die Urheimat sein soll und was es mit dem Skandinavienmythos auf sich hat. Unter “Urheimat” verstehen wir den Ort, die Region, an der sich eine neue Sprache abgespalten oder herausgebildet hat und von dem aus sie den Schritt machte, sich über ein größeres Territorium auszuweiten. Im speziellen beschäftigt uns in der Linguistik die Frage nach der Urheimat der germanischen Sprache (und auch der germanischen Völker) und die Urheimat der indoeuropäischen Sprache, aber es gibt natürlich auch die Suche nach der Urheimat der Finno-Ugrischen Sprachen, u.s.w. . Die Lautgesetze, die Entdeckung, dass Sprachen miteinander verwandt, voneinander evolviert sind, hat sich zunächst am Indogermanischen entfaltet und so wurde die Frage nach der Urheimat der Indogermanen zu einem zentralen Problem. Zwei konkurrierende Modelle standen dabei zur Auswahl: 1. Indogermanisch kommt aus dem eurasischen Raum, hat aber einen deutlichen Schwerpunkt im anatolischen Gebiet und breitete sich mit der Landwirtschaft aus. 2. Indogermanisch kam aus der südrussischen Steppe und ging von dort her in einer Art Eroberung bis nach Skandinavien und Westeuropa, auf der anderen Seite aber bis nach Indien. Für die 2. Theorie sprach vor allem die Archäologin Maria Gimbutas, die früh die Kurgankultur in Verdacht hatte, mit den Indogermanen verknüpft zu sein. Sie erkannte auch bereits das kriegerische Potential der Indogermanen. Im eher esoterischen Umfeld der Nazi-Ideologie versuchte man auch eine dritte Theorie zu etablieren: Indogermanisch käme aus Europas, wenn nicht sogar Skandinavien, denn die alten Germanen oder ihre Vorfahren wären allen Völkern überlegen und breiteten so über fast ganz Europa und einen beträchtlichen Teil Asiens ihre Sprache aus. Schon früh hatte sich die Frage der “Urheimat” der Indogermanen mit der “Urheimat” der Germanen verknüpft, denn hatte man einmal erkannt, dass die meisten europäischen Sprachen zusammenhängen und verwandt sind, so stellte sich die Frage, warum eine Sprache sich aus dem Dialektkontinuum aussonderte. Germanisch war sozusagen ein Sonderfall. Zwar hatten auch andere Sprachen, besonders das Keltische, Lautverschiebungen durchgemacht, aber das Germanische hatte dies gleich bei einer Reihe Konsonanten vollzogen, hatte die Grammatik durch Erfindung einer neuen Vergangenheitsform verändert und hatte den Wortakzent auf die erste Silbe, den ersten Stab, geschoben. Warum nur hatten die das getan und wann und wer von denen zuerst?

Der Skandinavientopos

Zum Germanischen und zu den germanischen Völkern zählt man die Deutschen, die in Hochdeutsche und Niederdeutsche zerfallen, die Friesen, die Niederländer, die Engländer und die Skandinavier. Wer waren aber nun die ersten Germanen? Die Norddeutschen oder die Skandinavier? Freilich übersieht man bei dieser Frage, dass “Deutsch” und “Skandinavisch” möglicherweise erst später getrennte Wege gegangen sind und wir das Ganze zu sehr vom Ende betrachten. Dennoch musste es ja irgendeinen Ort gegeben haben, wo das Ganze zumindest sprachlich einmal angefangen hatte. Da viele germanische Völker ihre Abstammung aus Skandinavien behaupteten, so die Goten, lag es nahe, dort auch den Ursprung der Sprache zu vermuten. Die gelehrige Behauptung von den Skandinaviern abzustammen, schien unter germanischen Stämmen weit verbreitet. Dies nennen wir Skandinavientopos. Es ist eine Art Narrativ, eine Erzählung, ähnlich wie die Behauptung der Königshäuser von Woden/Odin abzustammen. Der Skandinavientopos kann wahr sein, muss es aber nicht, umgekehrt gilt aber auch, dass nur die Tatsache, dass sich germanische Völker mit diesen Herkunftssagen schmückten, auch kein Beweis ist, dass es eine reine Erfindung ist. Wir werden weiter unten sehen, warum diese Erzählungen doch offensichtlich einen wahren Kern enthalten.

Auf den Spuren der alten Namen

Unbestritten ist Udolph die Autorität auf dem Gebiet der Ortsnamenforschung. Er betreibt auch Nachnamensforschung und hat sogar eine Radiosendung, in der man anrufen und ihn nach dem eigenen Familiennamen fragen kann. Die von Udolph verfolgte Idee, nicht nur die Ortsnamen anzuschauen, sondern noch mehr die Gewässernamen, ist nicht von ihm allein verfolgt worden. Sie hat zu vielen Spekulationen geführt. So vertritt Theo Vennemann zum Beispiel die These in europäischen Gewässernamen lasse sich ein Substrat finden, das älter als das Indogermanische ist (die sogenannte “Vaskonische Hypothese”) und einer Sprachform zugerechnet werden muss, die mit dem Baskischen verwandt ist. Generell ist die Grundidee, dass Wasserwörter sehr alt sind. Bricht die Besiedlung nicht vollständig ab, werden die Wörter verändert, aber erhalten. Die meisten Namen für Flüsse scheinen einfach nur ein Wort für “fließendes Wasser” zu sein. So entsteht der “Rhein” aus dem Wort “rinnen”. Wir wissen auch, dass der Name der Elbe verknüpft mit dem Germanenproblem ist, denn in Skandinavien ist “Elbe” einfach nur ein Wort für “Fluss”, deswegen gibt es in Schweden eine “Götaälv”, also eine Gotenelbe. Es gibt sogar eine Landschaft, die genau wie in Deutschland “Elbtal” heißt, nämlich “Älvdal”, eine Region in Dalarna, die berühmt für ihre eigene nordische Sprache geworden ist, die für Schweden übrigens völlig unverständlich ist und viele Relikte aus germanischer Zeit zeigt. Dass dies ausgerechnet in einer Kleinstregion ist, deren Namen wir mit der alten Verwandtschaft Deutschland-Skandinavien verknüpfen können, mag ein Zufall sein, der dennoch erfreut. Mit dem Wort “Elbe” können wir folgende Theorie illustrieren: Entweder die Germanen kamen von der Elbe (worauf die Jastorf-Kultur und der spätere Sueben-Bund hinweisen könnten) und nahmen ihr Wort mit und benannten jeden größeren Fluss in Schweden nach der heimatlichen Elbe oder sie kamen umgekehrt aus Skandinavien und nannten den größten Fluss den sie vorfanden, die “Elbe”. Dass es in Deutschland nur eine “Elbe” gibt scheint für das erstere zu sprechen. Allerdings heißt “Elbe” eigentlich “Weißwasser” (vergl. lat. albus = weiß) und das passt doch eher zu skandinavischen Verhältnissen. Es ist auch kaum vorstellbar, dass in der nordischen Bronzezeit die Völker nördlich und südlich der Ostsee nicht voneinander wussten. Ausläufer der nordischen Bronzezeit reichen bis Niedersachsen (Lurenfund). Das Meer war keineswegs eine große Trennlinie (anders als Gebirge und weite Wälder) wie auch die späteren Doppelungen Sueben/Suionen, Goten/Gauten zeigen. Auch das Zentrum der ingwäonischen Stämme scheint an der Ostsee zu liegen. Dieser Teil Germaniens ist vermutlich älter als der westliche (anders sieht es Udolph, der die Friesen für frühgermanisch hält). Selbst wenn die nordische Bronzezeit noch nicht germanisch ist, ist sie eine der Vorgängerkulturen. Auf den bruchlosen Übergang von der nordischen Bronzezeit zur germanischen Eisenzeit hat schon der schwedische Archäologe Oskar Montelius hingewiesen.

Udolphs Thesen zur Herkunft der Germanen

Was ist nun Udolphs Theorie? Grob vereinfacht kann man sie auf folgendes herunterbrechen: Die ältesten Landschaftsbezeichnungen, insbesondere Gewässernamen germanischer Sprachen finden sich in Norddeutschland, ebenso die ältesten Siedlungsnamen. Er sieht als ein Zentrum des frühen Germanischen Südniedersachsen mit den angrenzenden Bereichen an. Zunächst muss gesagt werden, dass selbst wenn die meisten etymologischen Herleitungen und Deutungen von Professor Udolph stimmen, und die meisten werden ja gar nicht angezweifelt, die Gesamttheorie noch nicht stimmen muss, denn die Frage nach der Urheimat muss, wie ich gleich darlegen werde, mit anderen Fragen verknüpft werden. Udolph kann also Recht haben und daraus trotzdem die falschen Schlüsse ziehen. Er könnte möglicherweise erst seine Theorie gehabt haben und dann nach Beweisen gesucht haben. Das vermute ich übrigens auch, denn Udolph bietet eine brillante und beinahe bestechende Lösung für das Heimatproblem gleich drei verwandter Völker an: Er sucht den Ursprung der Germanen in den fruchtbaren Gebieten Niedersachsen und ähnlich beschreibt er es für die Kelten und die Slawen: Dort, wo der Ackerbau am lohnendsten ist, entsteht Wohlstand, entsteht Überbevölkerung und der Druck, aber auch die Macht auszuwandern, das Gebiet zu erweitern. Udolph vertritt die These einer regelrechten Eroberung und viel anders kann man sich das ja auch nicht vorstellen, denn die bereits in Skandinavien ansässigen Indoeuropäer, die eine wie auch immer mit dem Germanischen verwandte Sprache gesprochen haben müssen, vielleicht eine Art Ur-Baltisch, werden wohl kaum einfach ihren guten Boden, der zudem noch seltener war als in Deutschland, hergegeben haben. Dabei macht Udolph in Diskussionen auch auf folgenden Umstand aufmerksam: Die Richtung der Kulturwanderung ist üblicherweise von Deutschland nach Skandinavien und eben nicht umgekehrt. Die Landwirtschaft ist zuerst in Deutschland, während in Skandinavien noch Jäger und Sammler leben. Die Eisenverarbeitung durchwandert vom Keltischen aus das germanische Gebiet von Süden nach Norden. In historischer Zeit sehen wir ähnliches: Das Christentum, das Vorbild des Frankenreichs, der hanseatische Handel, der Bergbau, der Protestantismus, die Sozialdemokratie, selbst die Maistange geht von Deutschland nach Schweden. Diese kulturelle Ausstrahlung ist sogar so stark, dass Deutschland für skandinavische Schriftsteller und Komponisten zu einer Art zweiten Vaterland wird. Hierbei übersehen wir aber, dass die Völkerwanderung in historischer Zeit eben den umgekehrten Weg geht. Die Wikinger breiten sich von Norden nach Süden und nach Westen und Osten aus. Germanische Völker wie Sueben und Goten verlassen ihre Wohnsitze an der Ostsee, um Land im Süden zu nehmen. Selbst von den Sachsen wissen wir, dass sie irgendeine Verbindung zum Norden hatten, bevor sie Niedersachsen zu ihrer Heimat machten und dort andere Stämme unterwarfen. Und wenn wir noch weiter zurück gehen, so stellen wir fest, dass die nordische Bronzezeit eben auch eine sehr reiche Kultur beherbergte. Möglicherweise hatte dieser Reichtum sein Zentrum nur in den küstennahen Regionen, der Handel ging aber in weit entfernte Regionen. Das Grab von Kivik deutet auf Hierarchie und machtvolle Zentren, man möchte fast von einem germanischen Urkönig sprechen, freilich wissend, dass wir nicht wissen, ob es damals überhaupt schon unsere Sprache gab. Für Udolph sind die Germanen hauptsächlich Bauern. In historisch greifbarer Zeit sind die Germanen aber vor allem Seekrieger. Schon die Heruler, der erste Stamm der Insel Fünen (bevor Seeland und Fünen dänisch wurden), die übrigens auch als Erfinder der Runen gelten, machen von sich als Seekrieger reden.

Die Wanderung der Gene

Udolph weißt oft darauf hin, dass Genetiker keine Ahnung von Sprachen haben. So beharrt er auch auf einer Herkunft der Indoeuropäer aus Europa, obwohl die Genetik mittlerweile etwas anderes sagt und Maria Gimbutas bestätigt, wenn auch die Einzelheiten noch nicht genau geklärt sind. An anderer Stelle will Udolph die Genetik wiederum zur Hilfe rufen, wenn er darauf hinweist, dass sich im Südharz in der Nähe der Lichtensteinhöhle eine Familie findet, deren Vorfahren bereist vor dreitausend Jahren dort gelebt haben. Wenn dies stimmt, haben wir es tatsächlich mit Siedlungskontinuität bis in vorgermanische Zeit zu tun. Wenn aber von dort die Germanen stammen sollten, müsste sich nachweisen lassen, dass diese Familie aus Osterode Nachfahren und Verwandte in Skandinavien hat und das in großer Zahl.

Denn ein Problem übersieht Udolph: Die Sprache muss irgendwer gesprochen haben! Gene sind nicht Träger von Sprachen, aber ohne Gene gibt es keine Menschen, die die Sprache sprechen. Sind auch seine Etymologien richtig, bleibt also das Grundproblem: Wer waren diese Germanen? Wir haben nach der Ausbreitung der Schnurkeramiker keine Anzeichen für eine größere Einwanderung in Skandinavien mehr. Diese Udolphschen Eroberer, die dann auch noch die besten Landstriche sich aneignen, müsste aber sichtbar sein. Es müsste zwischen der nordischen Bronzezeit und der Ankunft der römischen Eisenzeit in Germanien einen regelrechten Eroberungskrieg von Deutschland aus in Richtung Skandinavien gegeben haben. Und so eine Eroberung muss sich genetisch niederschlagen, denn das ist ja Udolphs Grundthese: Reiche Bauern bekommen viele Kinder und breiten sich aus. Dafür haben wir aber momentan keinen Hinweis. Interessanterweise haben wir aber Hinweise für den umgekehrten Weg und das rückt den Skandiavientopos in ein neues Licht. Wir wissen, dass an der Ostsee noch sehr lange indigene Jäger und Sammler lebten. Diese werden präsentiert durch die männliche Haplogruppe I1 (der Einfachheit halber wird in diesem Artikel nur die männliche Haplogruppe verfolgt, also das jeweils von dem Vater auf den Sohn vererbte Y-Chromosom. Natürlich kann man auch die Verwandtschaft der von der Mutter vererbten mtDNA in diese Betrachtung mit einbeziehen und wird dann feststellen, dass die ethnischen Linien von Vätern und Müttern nicht immer zusammen fallen, so scheinen häufig Verdrängungen von männlichen Linien stattgefunden haben bei gleichzeitigem Erhalt der mütterlichen Linien). Diese Gruppe ist auch heute noch oder sagen wir besser heute wieder eine der wichtigsten Haplogruppen in Skandinavien. Man kann vielleicht sogar behaupten, dass sie die Ureinwohner Skandinaviens darstellen (und übrigens nicht die Vorfahren der heutigen Samen). Es sind auch jene Leute, von denen Norddeutsche und Skandinavier die blauen Augen haben. Diese Jäger und Sammler leben in Nachbarschaft von Ackerbauern, deren Ursprung in Anatolien und Südeuropa zu suchen ist (und hier stimmt sie dann auch, Udolphs Idee, dass sich Bauern entlang der fruchtbaren Gebiete ausbreiten, die Bevölkerung wächst und somit neues Land erobert oder kolonisiert wird). Diese tragen andere Haplogruppen: G (wie der berühmte “Ötzi”) und E, die nicht aus Europa stammen, aber auch einige Anteile von der europäischen Gruppe I2, ehemalige Jäger und Sammler, die sich offensichtlich der neuen Lebensweise angepasst haben, deren Nachfahren wir heute vor allem auf dem Balkan, aber in kleinen Mengen auch in Nordeuropa finden, so zum Beispiel bei der berühmten Fundstelle in Motala, Schweden, wo zwei der Männer auf I2 getestet wurden. Hier finden wir übrigens auch schon bei einigen der Individuen den typisch “nordischen” Phänotyp mit hellen Augen, blonden Haaren und relativ heller Haut (interessanterweise auch eine Mutation, die ins Asiatische weist und Einfluss auf die Gesichtsform, die Haarstruktur und die Zähne hat, bei den Frauen auch das Brustwachstum beeinflusst). Skandinavien war für die damaligen Getreidesorten nicht besonders fruchtbar und so überlässt man vielleicht großzügig den Ureinwohnern ein Großteil ihres Landes. Während im übrigen Europa die Haplogruppe I1 immer seltener wird, hält sie an der Ostsee stand. Wir haben zwei späte Funde: Einen in Südschweden und einen bei Ostorf in Mecklenburg. Übrigens zwei Gebete, die in germanischer Zeit zusammenhängen zu scheinen, auch das vielleicht nur ein Zufall, der aber natürlich zu Spekulationen reizt. Die Indoeuropäer verdrängen die Ackerbauern fast vollständig, ja, in einigen Gebieten Europas wie Großbritannien scheinen sie das Land regelrecht erobert und einen Genozid unter der männlichen Bevölkerung veranstaltet zu haben, die Erbauer von Stonehenge sind nicht dieselben Leute, die die Anlage fertigstellen. Die Eroberer führen die Haplogruppen R1b und R1a mit sich. R1b hat einen Schwerpunkt im Westen im später keltischen Gebiet, reicht bis nach Norwegen und erfasst weite Teile Deutschlands. Wir verbinden R1b auch mit der Glockenbecherkultur. R1a hat seinen Schwerpunkt im Gebiet der Schnurkeramik. Diese Gruppe kommt nach Deutschland, aber auch nach Skandinavien, insbesondere nach Schweden. Sie nimmt ferner das weite, später slawische und baltische Gebiet ein. Wie diese Leute genau gesprochen haben, wissen wir nicht, aber es waren indoeuropäische Dialekte aus denen später Sprachen wie Germanisch, Baltisch, Slawisch hervorgingen. Wir wissen noch weniger, wie die indigenen Jäger und Sammler gesprochen haben, aber es war vermutlich eine ganz andere alte, heue verschwundene Sprache. Entweder haben sie eine finno-ugrische Sprache gesprochen oder eine Sprache von der wir heute überhaupt keine Vorstellung mehr haben. Auch von der Sprache der Bauern wissen wir nichts mehr, es könnte eine Art Vaskonisch gewesen sein, entfernt verwandt mit Baskisch. All das ist Spekulation, denn wir haben in Südskandinavien so gut wie kein Substrat. Die älteste Sprache scheint Germanisch zu sein, lediglich einige Landschaftsbezeichung sind möglicherweise vorgermanisch, aber doch schon indoeuropäisch, wie der “Vättern”, das “große Wasser”, eine Benennung, die auch für Germanen noch verständlich ist. Die Eroberung durch die Indoeuropäer ist fast perfekt und I1 beinahe ausgestorben. Möglicherweise gab es nur noch einen einzigen indigenen Mann. Dennoch wird I1 zu einer wahren Erfolgsstory. Heute ist es die größte männliche Haplogruppe in Schweden mit vielen Verwandten in Dänemark (wo es zwischenzeitlich vollständig verschwunden war), Norwegen, Norddeutschland und England (wo man sogar eine angelsächsische und eine nordische Gruppe unterschieden kann). Diese Haplogruppe findet sich auch in Südeuropa in Gräbern, die auf ein gotisches oder langobardisches Umfeld weisen. Zwar ist die Genetik nicht die Sprache eines Volkes, man kann aber grob sagen, dass die Mischung aus R1b, R1a und I1 mit einem winzigen Anteil von Trägern von I2 sozusagen die Kennmarke der Germanisch sprechenden Völker ist. Wer immer der letzte Ur-Schwede war, er war erfolgreich und seine Kinder und Enkelkinder waren es noch mehr. Er lernte die neue europäische Sprache, eignete sich die Kultur an und wurde Mitglied der Elite.

Zusammenfassung

Die zweite Ausbreitung von I1 erfolgt von Norden nach Süden und sie bestätigt den Skandinavientopos. Es gab jedenfalls im innergermanischen Raum eine Wanderung von Norden nach Süden. Wenigstens diese Skandinavier müssen schon germanisch gesprochen haben, da sie sonst vermutlich die gerade umgeformte Sprache wieder verändert hätten. Man könnte das ganze Problem der sprachlichen Germanisierung übrigens umgehen, wenn man eine Art Wellentheorie annimmt, also unterstellt, Germanisch habe sich in einem sprachlich sehr verwandten Gebiet wie eine Mode ausgebreitet, sozusagen als eine Welle, die einmal über die Ostsee ging, so wie sich zum Beispiel Hochdeutsch von Süden nach Norden verbreitet hat, aber irgendwann zum Stillstand gekommen ist. So etwas ließe sich erklären zum Beispiel durch ein wirtschaftlich starkes Zentrum, das als Vorbild in Richtung Peripherie wirkt. Genau diese Theorie lehnt Udolph aber ab, indem er zu Recht darauf hinweist, dass Germanisch zu einheitlich ist. Hochdeutsch ist dies nicht. Die Schweiz hat am stärksten verschoben, warum auch immer. Die alemannischen Stämme sind am stärksten davon betroffen, dann die Bayern in östlicher Richtung. Im Westen wird Hochdeutsch von Süden nach Norden im Fränkischen nach und nach weniger greifbar, bis sich die Verschiebung in den rheinischen Mundarten langsam verliert. Das Gebiet ist nicht einheitlich umgeformt, lediglich die alte sächsisch-fränkische Grenze scheint eine Art Schranke gewesen zu sein, jedenfalls sind dort die berühmten Benrather und Uerdingen Linien beinahe identisch mit der Grenze zwischen Niedersachsen und Hessen (im niederfränkischen Gebiet in Richtung Niederlande sind die Verhältnisse komplizierter, vom Konsonantenbestand ist Niederländisch Plattdeutsch, in der Grammatik finden sich aber Sonderformen, die teilweise deutscher sind als im Niedersächsischen) . Etwas ähnliches müsste man auch im Germanischen beobachten: Nordisches Germanisch wäre dann vielleicht mehr baltisch, deutsches Germanisch mehr keltisch. Genau so ist es aber nicht! Die starke Umformung des Germanischen kann man, wenn man nicht eine bewusste Nationbildung annehmen will (was immer das für die damaligen Stammesgesellschaften heißen mag) am besten mit Eroberung in relativ kurzer Zeit erklären, vielleicht noch mit einer Elite, die sich benachbarte Völker unterwirft. Diesen Vorgang können wir aber nach der Einwanderung der Schnurkeramiker nur von Norden nach Süden verfolgen. Es bleibt abzuwarten, ob diese Befunde mit der Theorie Udolphs in Übereinstimmung gebracht werden können. Umgekehrt gilt freilich, dass die Vermischung der indigenen Kultur mit den Schnurkeramikern vermutlich schon in der Bootaxtkultur beginnt. Im Laufe der Bronzezeit wird I1 jedenfalls wieder erfolgreich. Dies ist aber vor dem vermuteten Beginn der germanischen Lautverschiebung, der neuerdings (frühere Linguisten gingen von einem älteren Germanisch aus) dem berühmten Hanf-Argument folgend erst auf 500 v. Chr. angesetzt wird (dies besagt, dass die Germanen Hanf frühestens 500 v. Chr. kennen gelernt hätten, sie haben das Wort aber bereits lautverschoben, also das anlautende K- von Cannabis wurde zu einem H- und daher kann Germanisch nicht älter sein als das Wort Hanf. Wenn sich aber zeigen ließe, dass die Vermittlung durch Skythen oder andere alte indoeuropäische Verwandtschaft früher geschah, fiele das Argument weg). Der Skandinavientopos ist noch nicht vom Tisch. Auch fehlt bislang ein Grund für die starke Umformung der indoeuropäischen Sprache zum Germanischen. Einheitlichkeit kann man mit Gründereffekten erklären: Die Söhne der reichen “deutschen” Bauern sprechen alle die gleiche Sprache und zwingen diese den Skandinaviern auf. Warum aber sprechen sie überhaupt eine andere Sprache? Guter Ackerboden bringt einen Bauern wohl noch nicht auf die Idee, eine Konsonantenverschiebung durchzuführen. Für einen Sprachkontakt kommen aber nur zwei andere Kulturgruppen in Frage: In Deutschland die Trichterbecherkultur, die vor der Schnurkeramik bestand und übrigens bis nach Skandinavien und in das heutige Polen reichte, also beinahe deckungsgleich mit dem späteren frühen germanischen Gebiet war. Dies waren immerhin Bauern, aber die sprachliche Umformung hätte dann noch deutlicher früher stattfinden müssen und genetisch haben die Bandkeramiker und Trichterbecherleute, vor allem ihre Männer wenig Spuren in Nordeuropa hinterlassen (denkbar wäre aber der Zusammenhang über die Träger von I2). An der Ostsee und in Skandinavien die Überbleibsel der Jäger und Sammler. Hier wissen wir immerhin, dass die Träger der Haplogruppe I1 es geschafft haben, sich erfolgreich in die prägermanische Kultur zu assimilieren. Der Einfluss einer indigenen, möglicherweise sogar finno-ugrischen Sprache könnte eine Erklärung sein, jedenfalls für die Akzentverschiebung kämen diese Sprachen durchaus in Betracht. Dies würde aber eher in Richtung Schweden weisen. Die sprachlichen Neuerungen müssten dabei nicht notwendig durch einen Mann geriert sein, es können genauso gut Aussprachefehler einheimischer Frauen zu “Germanisch” geführt haben. Auch die Erfolgsgeschichte von I1 verlangt nach einer Erklärung: Wie kann ein einzelner Mann innerhalb einer überlegenden, kriegerischen Gesellschaft so erfolgreich werden? Wurde er oder einer seiner Söhne aufgrund besonderer Leistung in die Elite integriert? War er erfolgreich, weil er dem kalten und auch dunklem Klima des Nordens besser angepasst war? Es gibt ein Geheimnis in Skandinavien, das noch nach Deutung verlangt. Genetisch scheinen insbesondere die Norddeutschen, die noch einen relativ hohen Anteil an I1 haben, wenigstens zu einem Teil ausgewanderte “Kinder” Skandinaviens zu sein.

Literatur:

Jürgen Udolph, Namenskundliche Studien zum Germanenproblem, 1994

Hermann Schreiber, Auf den Spuren der Goten, 1977

Thorsten Andersson, Germanisch in Skandinavien im Lichte der Ortsnamen, 2004